Berücksichtigung von Lernereigenschaften
Expertise-Umkehr-Effekt
Weitere Erklärungsansätze
Folgende weitere Erklärungsansätze zum Expertise-Umkehr-Effekt finden sich in der Literatur:
- Erklärung auf Basis der Zone der proximalen Entwicklung: Einen besonders interessanten Erklärungsansatz im Zusammenhang mit der CLT und dem Expertise-Umkehr-Effekt haben Schnotz und Kürschner (2007) vorgeschlagen. Nach diesem Ansatz könne und solle die intrinsische kognitive Belastung, welche in der CLT durch die Komplexität der Aufgabe (genauer gesagt durch deren Elementinteraktivität) und die Expertise des Lernenden festgelegt werde, durch Instruktionsmaßnahmen manipuliert werden. Dieser innerhalb der CLT atypische Ansatz postuliert, dass das Arbeitsgedächtnis des Lerners durch den intrinsischen CL weder überlastet noch unterfordert werden sollte. Entsprechend sollten Aufgaben weder zu schwer noch zu einfach sein. Schnotz und Kürschner (2007) nehmen im Kontext dieser Erklärung explizit Bezug zum Konzept der Zone der proximalen Entwicklung (ZPD, zone of proximal development) von Vygotski (1963). Bei diesem äußerst einflussreichen Konzept der Pädagogischen Psychologie und Entwicklungspsychologie wird eine Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem Entwicklungsstand vorgenommen (zur Verwendung des Konzeptes der ZPD in der Instruktionspsychologie vgl. u.a. Katz und Assor, 2007; Lajoie, 2005; VanLehn et al., 2007). Die ZPD ist dabei die Differenz zwischen dem Niveau des selbständigen und durch bestmögliche Hilfe angeleiteten Problemlösens. Bei der Wissensvermittlung sollte die Aufgabenschwierigkeit der Lernmaterialien der Expertise des einzelnen Lernenden angepasst werden. Hierbei sei darauf zu achten, die ZPD während des Lernprozesses nicht zu verlassen (Abbildung 18). Ein Verlassen der ZPD könne beispielsweise durch bereitgestellte Unterstützungsmaßnahmen erfolgen (vgl. auch Seufert et al., 2007), die der Lernende aufgrund seiner erworbenen Expertise nicht mehr benötige (Schnotz und Kürschner, 2007). Aufgrund des Expertiseanstiegs während des Lernprozesses solle die intrinsische kognitive Belastung folglich entsprechend adaptiv verändert werden, um innerhalb der ZPD zu bleiben und somit das Lernen individuell zu optimieren (vgl. auch Kalyuga, 2007a). Der Erklärungsansatz von Schnotz und Kürschner (2007) findet sich im Grunde auch in dem Effekt der abschwächenden Unterstützung der CLT wieder sowie dem Konzept model progression, welches von de Jong und van Joolingen (1998) aufgestellt wurde.
- Erklärung auf Basis des Flow-Erlebens: Der Erklärungsansatz von Schnotz und Kürschner (2007) lässt sich auch mit dem Diagonalenmodell zum Flow-Erleben von Csikszentmihalyi (1985) in Verbindung bringen. Flow-Erleben bezeichnet einen Zustand des völligen Aufgehens in einer Tätigkeit. Nach dem Diagonalenmodell wird dieser Zustand erreicht, wenn sich die Anforderungen einer Aufgabe und die aufgabenspezifischen Fähigkeiten der Person im Gleichgewicht befinden. Sofern das Anforderungsniveau der Aufgabe das Fähigkeitsniveau der Person übertrifft, resultiert nach dem Modell Angst. Im umgekehrten Fall trete Langeweile auf. Welche Gemeinsamkeiten besitzt dieses Modell nun mit dem Erklärungsansatz von Schnotz und Kürschner (2007)? In beiden Modellen wird eine optimale Passung zwischen Aufgabenschwierigkeit (bzw. dem Anforderungsniveau der Aufgabe) und Expertise (bzw. allgemein dem Fähigkeitsniveau der Person) postuliert. Ersetzt man in Abbildung 18 die ZPD durch Flow-Erleben, dann führen nach dem Diagonalenmodell von Csikszentmihalyi (1985) zu schwierige Lernmaterialien zu Angst, während zu einfache Materialien hingegen Langeweile begünstigen (vgl. Abbildung 18). Das Diagonalenmodell wird beispielsweise durch eine Studie von Krombass, Urhahne und Harms (2007) im Lernkontext partiell gestützt. Nach dieser Untersuchung erleben die meisten Lernenden (in diesem Fall Gymnasiasten der sechsten bis neunten Klassen) in einem Naturkundemuseum jedoch kein Flow-Erleben, sondern wurden durch das Quadrantenmodell (Csikszentmihalyi und Csikszentmihalyi, 1991) den drei verbleibenden Kategorien Teilnahmslosigkeit, Angst und Langeweile zugeordnet.
Empirische Belege
Der Expertise-Umkehr-Effekt gilt als empirisch sehr gut belegt. Die Effektgrößen der einzelnen Studien deuten auf eine beachtliche praktische Bedeutsamkeit des Effekts hin. Für einen Überblick ist die Arbeit von Kalyuga (2007b) zu empfehlen.